Donnerstag, 23. November, 20 Uhr, Kulturgarage

Die erzählte Stadt


mit Isabelle Paris und Philipp Sarasin

Isabelle Paris liess mit ihrer wundervollen und vom Fernsehen und Radio bekannten Stimme die Städte beim Publikum lebendig werden. Sie las Texte aus den Werken von Charles Dickens bis hin zu Irmgard Keun, allesamt Autoren, die ihre Sinneswahrnehmungen zur Stadt literarisch verdichtet hatten. Historiker Philipp Sarasin, heute Emeritus, aber nach wie vor Koryphäe in Neuzeitgeschichte mit Fokus Stadt, bettete die literarischen Bilder in einen sozialhistorischen Kontext, wie er sie im Verlauf seiner Forschungstätigkeit festgehalten hatte, natürlich ohne Fussnoten und Abstracts, sondern massgeschneidert für das interessierte Wädenswiler Publikum.

Zahlen verdeutlichten die mächtige Migrationskurven des 19. Jahrhunderts, wo in London die Bevölkerung innerhalb von zehn Jahren von einer auf zwei Millionen anstieg. Die Arbeiterbewegung einmal konkret verstanden. Sie seien wie Nomaden, sagte T.S. Eliot, die gleichsam durch die Städte strömen und nach Arbeit suchen würden, in elenden Behausungen, im Gestank und Dreck von Krankheiten befallen, hungernd wohl mehrheitlich eher vegetierten als lebten.

Von Guy de Maupassant erfuhren wir Liebe, Einsamkeit und Trauer von Soldaten fern ab der Heimat. Hier folgte ein kleiner Exkurs Sarasins, der das Leben von «öffentlichen Mädchen» schilderte. Er leuchtete die bürgerliche Doppelmoral aus, die von Frauen zwar Keuschheit verlangte, von den Männern aber «Erfahrung» mit in die Ehe zu bringen. Zu kaufen war diese in den «Maisons de tolérance». In Paris waren sie Teil der Regulierung der Prostitution durch Napoleon.

In Romanen, Erzählungen und Gedichten des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Metropole Symbolträger, Raummotiv, Mitspielerin. In zahlreichen Texten verwandelt sie sich von der statischen Kulisse hin zur Protagonistin. Sie kann nicht nur zum Ort einer neuen Heimat werden, sie bringt auch, wie etwa in Döblins Roman Berlin Alexanderplatz neue Wahrnehmungsweisen zum Vorschein, die prägend für die moderne Kultur sind. Namen wie Charles Dickens oder Victor Hugo bis hin zu Mascha Kaléko, die mit ihrer Grossstadtlyrik den Kern des Berliner Stadtmenschen traf, machen die literarische Stadt auch im europäischen Kulturraum erfahrbar und zeigen, welche kulturgeschichtliche Brisanz damit einhergeht.

Als Erich Kästner ein Junge war, lebte er in einer verwunschenen Stadt. Dresden war vor dem Zweiten Weltkrieg einfach nur schön. Später, so erzählt Kästner, fehlte das Gasthaus «Zur stillen Musik», über dessen Namen er sich wunderte. Kästner beschrieb aber auch die Hinweisschilder an den Bürgerhäusern, wo die Herrschaft den Vordereingang, die Lieferanten und Dienstboten jedoch den Hintereingang zugewiesen bekamen.

 

Der Abend, den Nicole Dreyfus organisierte und moderierte, war vielschichtig, abwechslungsreich und pointiert. Den Ausführungen und Textpassagen alternierend zu folgen, war höchst spannend und liess beim einen vielleicht sogar etwas die Seele baumeln oder weckte beim anderen zumindest ein wenig das Fernweh nach einer europäischen Grossstadt.